Quer durch Kaliningrad

Keine Frauen in dieser Kirche! Da staune ich nicht schlecht, als die russische Nonne meine Reisegruppe aus der Kirche jagt. Wobei das auf der Reise in Kaliningrad eher das kleinere Problem war, denn die Verständigung ist eindeutig das Größere. 

Der erste Eindruck von Russland ist der scherzende Grenzbeamte bei der Einreise. Unser Fahrer, Sergej, hat ihm alle Pässe gereicht. Der Grenzbeamte schaut sich jeden Pass genau an und gibt einen nach dem anderen wieder zurück. Sergej reicht die Pässe an die Beifahrerin Barbara weiter. Sie schaut nach, sagt den Namen und gibt den Pass nach hinten weiter. Der letzte Pass ist an der Reihe. Der Grenzbeamte schaut in den Reisepass hinein, klappt ihn zu und gibt ihn zurück. „Barbara“ sagt er mit einem dicken Grinsen im Gesicht.

Und dann sind wir fast in Russland, in der Exklave Kaliningrad. Wir sind über Braunsberg in Polen eingereist, haben insgesamt viermal unsere Pässe gezeigt, sind zweimal gefilzt worden. Aber jetzt sind wir in Russland.  Sergej hat uns in Polen abgeholt und über die Grenze gebracht.

Helle wache Augen blicken uns durch den Rückspiegel an, Sergej ist groß gewachsen und trägt kurze weiße Haare. Wie alt er sein wird? Irgendwas zwischen Mitte Fünfzig und Anfang Sechzig. Mit ihm werden wir in den nächsten Tagen unterwegs sein.

„Hier stand früher ein Dorf“, erzählt er. Das Problem dabei: wir sind mitten im Wald. Nach der Kurve steht ein Plattenbau aus den 60zigern auf der linken Straßenseite. Sergej fährt rechts heran. „Wir sind in Heiligenbeil. Hier fand eine der letzten großen Schlachten des zweiten Weltkrieges statt und hat das Dorf ‚platt‘ gemacht“. Nur eine Kirchenwand ist vom Dorf übrig geblieben, einsam steht sie in einem Park.

Die Kirchenwand von Heiligenbeil
Die Kirchenwand von Heiligenbeil

Sergej schmeißt den Motor seines weißen Kleinbusses an und fährt weiter. Und zwar immer geradeaus. Innerorts geht es manchmal um eine Kurve, aber sonst kann Sergej das Lenkrecht eher locker halten. Sergej plaudert, erzählt von sich, dass er die ersten fünf Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht, dass er Deutsch sprechen verlernt und erst später wieder entdeckt hat.

Wir fahren durch ein Dorf, Sergej nimmt die Rechtskurve mit Schwung und plötzlich tritt er in „die Eisen“. Der weiße Kleinbus fährt quer über die ganze Straße und hält vor einem Tor an. „Dahinter ist die älteste Eiche der Welt“. Angeblich sei sie 8500 Jahre alt. „Sie brauchen sieben Menschen um sie zu umarmen“. Sergej steigt aus und klingelt an dem Tor, sofort schlägt ein Hund an. Sergej wechselt ein paar Worte mit dem Besitzer und kommt enttäuscht zurück. Die Eiche kann nur bis 17:30 besucht werden. Inzwischen ist es zehn nach sechs und somit darf die Eiche keinen Besuch mehr empfangen. Doch Sergey bringt das nicht aus der Ruhe, etwas, dass ihn ausbremst muss wohl erst noch erfunden werden. Wer ein Symbol für die stoische Ruhe sucht, wäre mit Sergej bestens beraten.

Und so fährt er weiter auf der alten Reichsstraße 1. Immer geradeaus führt sie durch die russische Oblast Kaliningrad. Kaliningrad, so heißt nicht nur die Stadt, sondern auch das gesamte russische Gebiet in dem wir gerade unterwegs sind. Bis zum zweiten Weltkrieg gehörte dieses Gebiet zu Deutschland, seit 1945 ist Königsberg russisch und heißt Kaliningrad. „Ich bin mir sicher, bald heißt Kaliningrad wieder Königsberg“, meint Sergej dazu. Wo er uns als nächstes hinfährt weiß nur er und so überrascht es uns wenig als er plötzlich links auf einen Feldweg abbiegt. Der weiße VW Bus nimmt Anlauf und fährt über die Kuppe. Wir alle halten die Luft an als der VW über die Kuppe rauscht. „Frisches Haff“ sagt Sergej nur. Der Ausblick ist toll, vor uns ist das Meer an dessen Horizont wir das andere Ufer des Haffes erkennen. Wir stehen mitten auf einem Ölfeld, bunt angestrichene Fördermaschinen holen das flüssige Gold aus der Erde. Auf der einen Seite der Maschine dreht sich unermüdlich ein Zahnrad und auf der anderen hebt und senkt sich ein Arm. Zisch, Zisch macht es. Eigentlich dürfen wir hier nicht sein, dass Betreten ist illegal erklärt uns Sergej. Aber weil es so schön ist, schießen wir erstmal ein Gruppenfoto an dieser Stelle.

Kurze Zeit später fahren wir über eine Brücke, die schon im zweiten Weltkrieg hier stand. Die Hebebrücke steht an der Hafeneinfahrt von Kaliningrad. Aber bis hierher kommen nur die kleinen Schiffe, alle Großen müssen draußen bleiben. Der Zufluss zum Hafen ist nicht tief genug und so legen die großen Schiffe in Pilau direkt an der Ostsee an.

Sergej fährt uns durch die Stadt und kurz vor unserem Hotel kommen wir an einen Hochhaus vorbei. Genaugenommen sind es zwei Hochhäuser die über jeweils zwei Gänge verbunden sind. „Hier ist niemals jemand eingezogen“ schimpft Sergej „da stimmt was mit Statik und Untergrund nicht“, und setzt uns am Hotel ab.

Das Hochhaus, in welches keiner eingezogen ist.
Das Hochhaus, in welches keiner eingezogen ist.

Am nächsten Morgen sind wir Richtung Osten unterwegs, die Straße erinnert eher an eine Autobahn, vierspurig ausgebaut führt sie aus Königsberg heraus. Es ist aber nicht die alte Reichsstraße 1, sondern die neue A229. Die alte Straße führt etwas nördlicher entlang. Wir sitzen wieder in Sergejs Kleinbus und sind unterwegs von der Stadt Königsberg in das Umland. Die Bebauung weicht langsam zurück und gibt der Landwirtschaft Platz. Leicht hügelig, aber die Straße führt uns immer geradeaus durch Kaliningrad.

„Nächstes Dorf heißt Arnau“ holt Sergej uns aus den Tagträumen zurück in die Wirklichkeit. „Hat sehr schöne Russisch-Orthodoxe Kirche“. Die Kirche war bis zum zweiten Weltkrieg evangelisch gewesen und sei meistens verschlossen, erzählt er. „Ein gutes Beispiel für Deutsch-Russische Zusammenarbeit, ein Deutscher Verein aus Hamburg hat die Kirche in 90er Jahre renoviert und gehört heute Russisch-Orthodoxer Kirche“ lassen wir uns vor der Kirche aufklären. Wir gehen ums Eck und siehe da: Überraschung, die Tür steht sperrangelweit offen. Der Altarraum ist durch eine Wand vom Hauptschiff getrennt. An der Decke hängt ein gigantisch großer Kerzenleuchter mit leuchtenden Kerzen, bestimmt zwei Meter Durchmesser. Wie viel Aufwand es wohl macht alle Kerzen anzuzünden? In aller Ruhe besichtigen wir die Kirche als plötzlich eine kleine schwarz gekleidete Frau in die Kirche stürmt. Man sieht ihr an, sie ist wütend und was sie sagt klingt eher unfreundlich. Aber wie das so ist, wir verstehen mal wieder kein Wort. Schließlich redet Sergej mit Engelszunge auf sie ein. Die aufgebrachte Frau ist nicht zu beruhigen und so treten wir schließlich den Rückzug an. Draußen klärt uns Sergej auf, dass heute ein Kirchenoberhaupt aus Russland erwartet wird und die Kirche deswegen so schön hergerichtet wurde. Und überhaupt: Frauen hätten in dieser Kirche gar nichts verloren.

Aber Sergej trifft das gar nicht. Munter erzählt er uns, dass wir jetzt zur nächsten Kirche fahren werden. Auch diese sei meistens verschlossen, er hat den Hausmeister aber schon angerufen. Der ist zwar nicht da, aber die Tochter schließt uns auf. Im Laufe dieser Reise sind wir uns sicher, Sergej kennt alle und Sergej weiß alles. Wo wir hinkommen, Sergej hat es schon organisiert und was wir ihn fragen, Sergej kann auf jede Frage eine Antwort geben. Und natürlich weiß er auch etwas zu der nächsten Kirche. Der Hausmeister heißt Viktor und hat die Kirche in Uschakowo praktisch im Alleingang wieder restauriert. Nach dem zweiten Weltkrieg diente sie als Getreidespeicher und nur wenn man genau, ganz genau, hinschaut dann, sieht man noch den alten Torbogen. Viktor hat also gut gearbeitet.

Weil wir von Kirchen inzwischen genug haben, fahren wir nach Tapiau und parken auf dem Marktplatz. In der Pause wollen wir Briefmarken kaufen, „Da auf der anderen Seite des Platzes“, sagt Sergej. Wir betreten den Laden und stutzen, hier gibt es viele Telefone aber nach der Post schaut es gar nicht aus. Ob die Dame Deutsch oder Englisch spricht? Ein Versuch ist es wert. „May we ca buy stamps right here?“, nein sie kann kein Englisch. Stattdessen schaut sie uns nur verständnislos an. Wir holen also die Postkarte aus der Tasche und tippen auf das Viereck für die Briefmarke. „Stamps, Briefmarke“ sage ich nochmal. Und jetzt fällt der Groschen bei ihr. „No No No“, sagt sie. Ein bisschen Englisch kann sie ja doch. Sie springt vom Stuhl auf und läuft zur Tür, geht mit uns auf die Straße und deutet auf das Nebenhaus: „Post“. Nach dem Bedanken und der Verabschiedung gehen wir in die Post. Doch die ist gerammelt voll und so beschließen wir weiterzufahren. Sergej fährt aus Tapiau heraus, am Gefängnis vorbei und dann an der Pregel entlang. Wir sind wieder auf Reichsstraße 1. Die Dörfer werden kleiner, die Landschaft ländlicher. Sergej bremst, biegt rechts ab und hält in einer Hofeinfahrt. Ein Postgeschäft mitten im russischen Nirgendwo und rund herum ein paar Häuser. Wobei manche Gebäude die Bezeichnung „Haus“ absolut nicht verdient haben. Eine ältere Dame sitzt in einer Hofeinfahrt und schaut uns neugierig an. Man sieht uns das Ausländerdasein wohl schon auf Kilometer an. Das Modernste am ganzen Dorf dürfte die Brücke über den Bach sein und selbst die hat schon bessere Tage gesehen.

Sergej packt uns alle wieder in seinen alten VW Bus, den er in Hamburg gekauft hat. „Ich fahre oft nach Deutschland“ erzählt uns Sergej. Inzwischen rauscht der weiße Bus Insterburg entgegen, unserer Endstation. In Insterburg stehen einige Statuen. Der Lenin stand vorher hier, der Stalin dort. Die Stadtoberen scheinen sehr gerne Statue-Wechsel-Dich zu spielen. Und so fährt Sergej zum Ende der Fahrt über die alte Reichsstraße 1, der gerade Straße, noch ein paar Kurven durch die Stadt. Wir sollen uns wieder umgewöhnen, sagt Sergej mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Den ersten Teil verpasst? So ging alles los…

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